Yitzhak Doveh

Im Rahmen des 78. Jahrestages der Befreiung des KZ-Mittelbau-Dora durfte ich Yitzhak Doveh und seinen Sohn Arik sechs Tage lang betreuen und kennenlernen. In dieser Zeit hat Yitzhak einiges über sein Leben und seine Zeit in den Konzentrationslagern erzählt.

Yitzhak Doveh wurde am 10. Januar 1928 als Yitzhak Davidovic in Rumänien in eine jüdische Familie geboren. Er machte eine Ausbildung zum Schlosser. 1944 wurde Yitzhaks Familie in das Ghetto in Oradea eingewiesen und von dort während der sogenannten „Ungarn-Aktion“ nach Auschwitz deportiert. In Auschwitz wurden drei seiner fünf Geschwister und seine Eltern ermordet.

Bei der Selektion wurde Yitzhak zu den „arbeitsfähigen“ Männern eingeteilt und mit vielen weiteren Jungen und Männern in eine Baracke gebracht. Er wurde mit 299 weiteren ungarischen Juden nach Wolfsburg in das KZ-Arbeitsdorf deportiert. Dort gab es für jeden Häftling einen eigenen Schlafplatz, Holzschuhe und Waschmöglichkeiten mit Warmwasser.

Während eines Bombenangriffs auf das VW-Werk wurde Yitzhak von einem Wachmann mit in einen Luftschutzbunker geholt, obwohl an diesem stand „Nur für Deutsche“. Dieses Ereignis ist Yitzhak besonders gut in Erinnerung geblieben, da ihn die Handlung des Wachmanns sehr überrascht hat. Nach der Bombardierung war die Produktion der V1 in Wolfsburg nicht mehr möglich.

Am 27. September 1944 kam Yitzhaks Transport schließlich im Arbeitslager Dora, ab Oktober KZ-Mittelbau an. Dort musste er zusammen mit seinen ungarischen Mithäftlingen unter der Anleitung von deutschen Zivilarbeitern KZ-Zwangsarbeit in der unterirdischen Rüstungsproduktion leisten. Yitzhak wurde auf einen Todesmarsch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen geschickt, in dem er am 15. April 1945 durch britische Soldaten befreit wurde.

Im KZ Bergen-Belsen herrschten zu diesem Zeitpunkt katastrophale Bedingungen. Yitzhak traf durch einen großen Zufall in diesen Umständen seine Schwester Golda wieder. Diese war durch die KZ-Haft sehr krank und wurde über die Aktion Bernadot nach Schweden in ein Sanatorium gebracht. Sie durfte einen Angehörigen mitnehmen, das war Yitzhak. Die beiden lebten drei Jahre in Schweden bis es Yitzhaks Schwester besser ging und die beiden nach Israel zogen. Dort musste Yitzhak im Militär dienen. Während Yitzhak auf einem Militärfahrzeug durch die Straßen fuhr entdeckte er seinen Bruder David auf einem anderen Militärfahrzeug wieder. Bis dato wusste Yitzhak nicht, dass dieser noch lebt.

1950 heiratete Yitzhak seine Frau Ahuva, die er im Sanatorium in Schweden kennenglernt hatte. Sie bekamen zwei Kinder. 1955 gründete Yitzhak seine eigene Firma „Hayotzer“, von der mittlerweile sein Sohn, Arik, der Chef ist. Yitzhak arbeitet dort halbtags im handwerklichen Bereich.

Bei der Betreuung von Yitzhak und Arik ist sehr deutlich geworden, wie sehr die KZ-Zeit Yitzhak nachhaltig geprägt hat. Er arbeitet auch mit seinen 95 Jahren noch, da ansonsten die Erinnerungen an seine Haftzeit zurückkommen und auch fast 80 Jahre später hat er immer noch Alpträume, die ihn an seine Zeit im KZ erinnern. Über die Zeit im KZ hat Yitzhak die Namen seiner drei jüngeren Brüder vergessen, die er bis heute nicht mehr weiß. Auch seinen Geburtstag hatte er vergessen. Deshalb feierte er diesen 77 Jahre lang immer im Februar. Erst, als seine Enkelin im Jahr 2022 die rumänische Staatsbürgerschaft beantragte und dabei ein altes Dokument auftauchte konnte Yitzhaks Geburtstag auf den 10. Januar 1928 datiert werden.

Durch seine Zeit im Konzentrationslager glaubt Yitzhak nicht mehr an Gott, während seine Frau, die ebenfalls die Konzentrationslager überlebt hat, sehr gläubig ist.

Lange Zeit hätte Yitzhak nicht nach Deutschland kommen können, doch mittlerweile ist er froh, sich als Jude frei in Deutschland bewegen zu können.

Yitzhak ist ein sehr humorvoller Mensch, für jede Situation hat er einen Witz parat. Den Rollstuhl, den die Gedenkstätte ihm in Deutschland gestellt hat nannte er immer seinen Cadillac, beim Besuch des Volkswagenwerkes war es dann „mein VW“. Dieser Besuch kam zustande, weil Yitzhak den Wunsch äußerte, den Ort wo er damals arbeiten musste, Arik zu zeigen.

Als wir dort ankamen, musste unsere Reisegruppe sich erst einmal anmelden, bevor wir das Gelände des Werkes betreten zu durften. Yitzhak machte den Witz, er würde schon mal vorgehen, weil er ja schließlich Mitglied bei VW sei.

Es beeindruckt mich sehr, wie Yitzhak es immer wieder geschafft hat, mit seinem Humor seine Vergangenheit zu bewältigen und uns dabei zum Lachen zu bringen.

Im Werk selber wurde uns nicht nur gezeigt, wo die V1 hergestellt wurde, wir bekamen auch eine ausführliche Privattour durch die ganze Produktion. Yitzhak und Arik waren davon sehr beeindruckt und nahmen dies zum Anlass, immer wieder von ihrer eigenen Firma zu erzählen, in der einige Produktionsabläufe ganz ähnlich aussehen.  Anschließend schauten wir uns auch den ehemaligen Schlafraum von Yitzhak und seinen Mithäftlingen an. Außerdem besichtigten wir den Luftschutzbunker, von dem Yitzhak bereits im Vorhinein erzählt hatte. Diese Räumlichkeiten werden heute als Ausstellungsräume genutzt, um die Geschichte der vielen Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge die durch VW zur Arbeit gezwungen wurden, darzustellen.

Ich habe Yitzhak während der gesamten Betreuung immer wieder gefragt ob alles gut sei, auch wenn ich seine Antwort irgendwann schon kannte: „Zu gut!“. Denn Yitzhak braucht nach eigener Aussage nur genug Brot um glücklich zu sein. Auch das ist eine Einstellung, die er aus seiner KZ-Zeit mitgenommen hat.

Ich habe Yitzhak als einen sehr lieben und umsichtigen Menschen mit einem riesengroßen Herzen kennenglernt. Seine positive Art hat mich nachhaltig beeindruckt – die sechs Tage in denen ich ihn kennenlernen durfte haben mich sehr geprägt.

Auf dem Rückweg zum Flughafen machte Yitzhak den glorreichen Vorschlag mich in seinen Koffer zu stecken, damit ich kostenlos mit nach Israel kommen kann. Ich hoffe, dass ich ihn trotz des Krieges bald in Israel besuchen kann.

Eine Birke names Boris

Geboren 1913 in einer slowenischen Familie, als die Hafenstadt Triest noch zu Österreich-Ungarn gehörte, erlebte Boris Pahor (1913-2022) bereits in jungen Jahren die Unterdrückung der slowenischen Kultur durch die italienischen Faschisten. Später engagierte er sich im slowenischen Widerstand und wurde, kurz nachdem die Nazis Triest besetzten, am 21.01.1944 verhaftet.

Als politischer Häftling durchlief Boris Pahor verschiedene nationalsozialistische Konzentrationslager, darunter Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Während er viele Mithäftlinge und Freunde leiden und sterben sah, eröffnete ihm sein Sprachtalent einen Dolmetscherposten in Natzweiler-Struthof. Später setzte man Boris Pahor als Häftlingskrankenpfleger ein und in dieser Position gelangte er im Dezember 1944 in den Häftlingskrankenbau Harzungen, einem Außenlager von Mittelbau-Dora.

Nach der Befreiung war er abgemagert und an Tuberkulose erkrankt, so dass er selbst zunächst länger in einem Sanatorium nahe Paris auf medizinische Hilfe angewiesen war. Nebenbei nutzte Boris Pahor diese Gelegenheit, um sich intensiv die französische Sprache anzueignen. Nach seiner Genesung konnte er das Studium wieder aufnehmen, arbeitete später als Lehrer und wurde zu einem der bekanntesten slowenisch-sprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Sein herausragendes Werk ist das Buch „Nekropolis“, was von seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern handelt aber auch immer wieder grundlegende Fragen der Konzentrationslager und des Erinnerns reflektiert.

Nach dem Zivildienst in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora hatte mich das Studium ein Jahr lang ins italienische Padua geführt, eine bedeutende Universitätsstadt, in der, wie ich später erfuhr, auch Boris Pahor etwa 70 Jahre zuvor studiert hatte. Mit der italienischen Sprache vertraut, habe ich 2015 die besondere Aufgabe bekommen, beim 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora persönlicher Betreuer von Boris Pahor zu werden. Da er zur slowenischen Minderheit im italienischen Triest gehörte, beherrschte er immer schon beide Sprachen – Slowenisch und Italienisch. Beim folgenden Jahrestag 2016 durfte ich Herrn Pahor dann noch einmal begleiten. Da er in verschiedenen großen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, hätte er natürlich auch zu anderen Jahrestagen reisen können. Doch der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora war Boris Pahor besonders verbunden, weil er den Besuch einer Gruppe des Vereins Jugend für Dora im Jahr 2009 beim ihm zuhause in Triest in guter Erinnerung behalten hatte. Er wurde im Rahmen des Projektes „Zukunft der Zeitzeugen“ interviewt und ihm gefiel, dass junge Leute sich für seine Geschichte und seine Meinung interessierten.

 

Die Betreuung von Boris Pahor und seinem Sohn Adrijan bei den zwei Jahrestagen war für mich eine sehr intensive und beeindruckende Zeit. Trotz seines hohen Alters und gewisser körperlicher Einschränkungen erlebte ich ihn als schlagkräftigen Gesprächspartner, sowie aufmerksamen und interessierten Beobachter mit Sinn für Humor. Immer wieder kamen Erinnerungen in ihm hoch, dazu gehörten verschiedene deutsche Begriffe der Lagersprache, Ortsnamen und sogar ein Schlager, den er damals häufig gehört hat. Essen hatte eine ganz besondere Bedeutung für Boris Pahor und er schätze eine warme Minestrone, dabei erinnerte er sich an den extremen Hunger den er als Häftling erlebte hatte. Großes Interesse schenkte er dem Pressespiegel und der medialen Berichterstattung zum Jahrestag. 2016 hatte es ein Foto vom Jahrestag auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung geschafft, worüber sich Herr Pahor besonders freute.

 

Eine wichtige Aufgabe zum 70. Jahrestag war das Organisieren eines „echten“ Espresso, denn vor seiner großen Rede wollte Boris Pahor richtig wach sein. Von der Mittagsrunde im Festzelt rannte ich deshalb zur Küche im Hauptgebäude, unsicher, ob es dort überhaupt einen italienischen Espresso gab. Zum Glück entsprach das hastig organisierte Getränk seinen Vorstellungen und die Rede war sehr beeindruckend. Der zu diesem Zeitpunkt 101-jährige Boris Pahor, ein wahres Sprachtalent, redete etwa eine halbe Stunde lang frei auf Französisch. Er legte den Fokus auf die Erinnerung an die „Triangoli rossi“, die roten Winkel, also die politischen Gefangenen, zu denen er selbst gehört hatte. Er rief dazu auf, ihr Schicksal nicht zu vergessen und die Orte, an denen sie gelitten haben oder gestorben sind, in Erinnerung zu behalten und zu bewahren.

 

Boris Pahor war besonders von der Idee des Ehrenhains in Nordhausen begeistert und widmete diesem Ort den Artikel „Una betulla di nome Boris“(Eine Birke namens Boris), der am 20.05.2012 in der großen italienischen Tageszeitung „Il Sole 24 Ore“ erschien. Ihm gefiel gut, dass ein Ginko, dem ja eine unterstützende Wirkung auf das Gedächtnis nachgesagt wird, das Zentrum der Bäume bildet. In dem Artikel brachte Boris Pahor jedoch auch sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass er den Baum noch nicht selber gesehen hatte. Beim Jahrestag 2016 konnten wir schließlich eine Pause im Programm nutzen, um gemeinsam die Birke zu besuchen, worüber er sich sehr freute. Insgesamt unterhielten wir uns viel über Sprachen. Zum Abschied empfahl er mir noch eine slawische Sprache zu lernen, da Sprachen die Möglichkeit bieten, den eigenen Horizont zu erweitern.

Philipp Kiosze, Mitglied von Jugend für Dora e.V.

Meine Begegnung mit Boris Pahor

Da saß ich nun ihm persönlich gegenüber: Boris Pahor, für mich persönlich eine Lichtgestalt der italienischen und slowenischen Literatur. Einer der ganz großen Intellektuellen, die sich in ihren Schriften und Werken über viele Jahrzehnte hinweg für das Friedensprojekt Europa stark gemacht hatten. Einer, der wie nur wenige Menschen auch mit seiner eigenen Biografie die Geschichte des 20. Jahrhunderts verkörperte.

Nordhausen im April 2015: In der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora wurde nun der 70. Jahrestag der Befreiung begangen. Als ich wenige Monate zuvor erfahren hatte, dass Boris Pahor trotz seines hohen Alters persönlich anreisen und teilnehmen würde, war ich höchst vorfreudig auf diesen runden Jahrestag gespannt. Als mich die Mitarbeitenden der Gedenkstätte dann kurzfristig im März fragten, ob ich bereit wäre, ein Zeitzeugeninterview mit Boris Pahor zur audiovisuellen Dokumentation für die Sammlung der Gedenkstätte zu führen, steigerte sich meine Vorfreude umso mehr. Was für eine Gelegenheit, diesem großen Geist, Chronisten und Vordenker auf diese Weise ganz nah begegnen zu dürfen. Und so befand ich mich gemeinsam mit ihm an jenem Tag in einem unscheinbaren Seminarraum in der Gedenkstätte. Er saß mir gegenüber hinter einem Tisch, vor sich ein Glas Wasser. Eine körperlich kleine, unscheinbare Gestalt, die allerdings durch ihr stilles, bedächtiges Auftreten und ihren klaren, offenen Blick eine große Würde und Erhabenheit ausstrahlte. Außer uns beiden waren noch ein Kameramann und ein Tontechniker sowie zwei weitere Mitglieder des Vereins Jugend für Dora e.V. mit dabei, die meinem Gespräch mit Boris Pahor ebenfalls zuhören wollten.

Und er begann zu erzählen: Von Harzungen, vom dortigen KZ-Außenlager und seiner Umgebung, dem Dorf und den Anwohnenden. Von der schweren körperlichen Zwangsarbeit. Vom täglichen Kampf um Selbstbehauptung und Hoffnung im Lageralltag. Vom Leben und Überleben. „Ich möchte Sie aber keinesfalls langweilen“, erklärte er mir zwischendurch immer wieder in seinem herrlichen Triester Italienisch. Wie könnte er! Ich lauschte ihm, ließ ihn erzählen, tunlichst bemüht, seinen Worten zu folgen, seine Gedanken nicht zu unterbrechen. Um seine Worte in mich und für die mitlaufenden Speichermedien aufzusaugen, all das, was er mir dort vor Ort in diesem Setting mitgeben wollte. Als geistiges Erbe und Erinnerung für die Zukunft. Auch als Zeitdokument für eine Zukunft, in der wir alle, die wir nun in diesem Raum versammelt waren, nicht mehr hier sein würden.

Doch Boris Pahor war im Hier und Jetzt ganz präsent. Trotz seines für mich unvorstellbaren Alters von fast 102 Jahren saß er da und erzählte. Zwischendurch eine humorvolle Bemerkung, eine Rückfrage, ob ich tatsächlich alles sprachlich verstanden hätte. Ich nickte. Es sei ihm eine Freude, dieses Gespräch mit mir auf Italienisch führen zu dürfen, hatte er mir im Vorfeld erklärt.

Als wir uns langsam der Zwei-Stunden-Grenze näherten, merkte ich ihm allmählich etwas Erschöpfung und Müdigkeit an. Deshalb bemühte ich mich nun, das Gespräch behutsam und respektvoll zu beenden, um ihm die Möglichkeit zur Ruhe zu geben. Dennoch versicherte mir Boris Pahor, dass er mir eigentlich noch viel mehr hätte erzählen wollen. Wir müssten uns eben nochmal treffen. Was ich denn beruflich machte. Und wo er mich besuchen könnte, fragte er mich. Ich erzählte ihm, dass ich als Historiker gerade die Leitung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen übernommen hatte. Eines Ortes in Sachsen-Anhalt, der in den kommenden Jahren ein Dokumentationszentrum mit einer Dauerausstellung erhalten und als Gedenk- und Bildungsort konzeptuell neu erschlossen würde. Aufmerksam hörte er mir zu, schaute mich durch die beiden Gläser seiner Brille interessiert an, nickte ab und zu verständnisvoll. Dann fasste er mit seiner rechten Hand kurz in seine Jackentasche und zückte ein kleines blaues Büchlein: seinen Terminkalender. „Und wann, sagten Sie, wird diese Gedenkstätte neu eröffnet?“ Diese Rückfrage überraschte mich. Ich zögerte kurz und erklärte ihm dann, dass es bei allen Planungsunsicherheiten wohl in fünf Jahren, also im April 2020, einen 75. Jahrestag des Massakers von Gardelegen geben werde, der erstmals in dem neuen Gedenkstättengebäude würde stattfinden können. „Es wird mir eine Ehre sein, zu dieser Eröffnung zu kommen“, entgegnete mir Boris Pahor. Während er sprach, notierte er etwas in seinem Kalender, dann klappt er ihn zu, ließ ihn und den Kugelschreiber wieder in seine Tasche gleiten und schaute mich an. Zwar sichtlich ermüdet von unserem knapp zweistündigen Gespräch. Aber dennoch mit einem höchst klaren und entschlossenen Blick. „Es war mir eine Freude, Sie heute hier getroffen zu haben“, erklärte er mir und deutete an, sich nun erheben zu wollen. Ich dankte ihm für seine Zeit, für seine Gedanken und persönlichen Schilderungen. Zum Schluss traute ich mich doch noch und fragt ihn, welche Botschaft er mir und den Menschen heute mitgeben möchte. Nach kurzem Nachdenken antworte er mir: „Geben Sie bitte niemals die Hoffnung auf!“ Ein einprägsamer Satz, den ich seitdem in mir trage und dessen prägnante Aussage mich zutiefst beeindruckte.

So verabschiedeten wir uns voneinander. Kurz darauf durfte ich Boris Pahor bei der öffentlichen Gedenkveranstaltung sehen und hören. Auch in den folgenden Jahren begegnete ich ihm nochmal bei den Jahrestagen zur Befreiung des KZ Mittelbau-Dora. Doch zum eigentlich verabredeten Treffen anlässlich der Eröffnung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen kam es leider nicht mehr. Erst durchkreuzte die Corona-Pandemie sämtliche Pläne und Gedenktage. Und dann holte Boris Pahor leider doch noch sein hohes Alter ein. Als mich die Nachricht von seinem Tod im Jahr 2022 erreichte, mischten sich in mir Trauer und Dankbarkeit. Trauer darüber, dass dieser beeindruckende Mensch nun im Alter von 108 Jahren von uns gegangen und für immer verstummen würde. Und Dankbarkeit dafür, welches literarische Erbe er uns als Zeitzeuge hinterließ – und für jene zwei Stunden im April 2015, als ich ihm gegenübersitzen, mit ihm reden und ihm zuhören durfte.

Andreas Froese, Mitglied von Jugend für Dora e.V.

George Stein

George Stein traf ich mit zwei seiner Söhne beim ersten Jahrestag, bei dem ich als Betreuer eingesetzt war: 2005. Es war der 60. Jahrestag der Befreiung und eine der größten Jahrestage, die ich je begleitet habe. Zur Gruppe der Menschen, die ich begleiten dufte, gehörte auch George Stein und zwei seiner Söhne. Er war aus Australien und seine Söhne aus Israel angereist.

George Stein wurde im Februar 1927 in Oradea, einer Stadt in Rumänien, geboren. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Im Mai 1944 wurde George und seine Familie in ein Ghetto deportiert. Von dort aus wurden sie weiter nach Auschwitz verschleppt, wo seine Eltern und Geschwister ermordet wurden.

Nach seiner Befreiung kehrte George zunächst nach Rumänien in seine Heimatstadt zurück. Dort fand er keine Familienangehörigen mehr vor. Er entschied sich 1948 gemeinsam mit seiner Frau nach Israel auszuwandern. 1955 siedelten sie erneut um, diesmal nach Australien, wo George zunächst in einer kleinen Tankstelle mit Reparaturbetrieb arbeitete bevor er selbst eine eigene Tankstelle eröffnete, die er 34 Jahre lang erfolgreich geführt hat. Er verstarb im April 2022.

Die erste Begegnung mit ihm und einem Teil seiner Familie war eine enorme Herausforderung für mich. Seine Söhne besuchten die Gedenkstätte damals zum ersten Mal und ich glaube, sie verstanden erst dort, was ihr Vater durchmachen musste und was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er später wurde. Lange Abende verbrachten wir während des Jahrestages 2005 mit Gesprächen und Diskussionen, sodass uns nur wenige Stunden Schlaf blieben. Für Georges Familie war es ein unheimlich wichtiger Aufenthalt und ich durfte als Begleiter mittendrin sein. Das sind Erlebnisse, die einen prägen. Auch 2006 durfte ich George wieder begleiten. Er war durch ein Interview Teil der damals neueröffneten Dauerausstellung in der Gedenkstätte. Es sollte sein letzter Besuch sein, da kurz zuvor seine Frau gestorben war und er die Geschichte mit der Eröffnung der Ausstellung für sich abschließen wollte. Er hat seinen Teil beigetragen. Ich werde nie unseren letzten Abschied am Bahnhof in Nordhausen vergessen. George war bereits im Zug und öffnete erneut das Fenster. Er sagte uns, wenn die „deutsche Jugend“ heute so sei wie wir, mache er sich keine Sorgen mehr. Ich werde seine Worte nie vergessen, sie sind für mich bis heute von großer Bedeutung. Sie sind eine Antwort auf die Frage, warum ich diese Arbeit so viele Jahre gemacht habe.

Felix, Mitglied von Jugend für Dora e.V.

Ernö Lazar/ Avraham Lavi

Avraham Lavi wurde 1931 als Sohn jüdischer Eltern in Ungarn geboren. Sein Geburtsname lautet Ernö Lazar, erst in der Nachkriegszeit und nach seiner Befreiung änderte er seinen Namen in Avraham Lavi um. Er wurde mit kaum 13 Jahren von den deutschen Besatzern verschleppt und durchlebte als Kind das System deutscher Vernichtungs- und Konzentrationslager. 1944 wurde die gesamte Familie nach Ausschwitz deportiert. Im Außenlager Auschwitz-Monowitz musste Avraham Lavi Zwangsarbeit bei der IG Farben leisten. Über einen Todesmarsch bei der Räumung von Auschwitz kamen er sowie sein Vater und Bruder in das KZ-Mittelbau-Dora. Dort wurde Avraham Lavi von seiner Familie getrennt in das Außenlager Boelcke-Kaserne verlegt. Seine gesamte Familie wurde von den Deutschen ermordet, Avraham Lavi konnte hingegen im April 1945 durch amerikanische Soldaten von einem weiteren Todesmarsch befreit werden.

Wenn er über jene Zeit sprach, war es vor allem auch der Applaus der ungarischen Nachbarn, bei der Deportation seiner Familie, den er nicht vergessen konnte. Ich habe Avraham in der Gedenkstätte als sehr zurückhaltenden Menschen kennengelernt, der an diesem Ort seiner Marter oft sehr traurig wirkte. Über die Jahre durfte ich sowohl ihn als auch große Teile seiner Familie begleiten. Avraham Lavi wanderte im März 1949, nachdem er zuvor nochmal in seine ungarische Heimatstadt zurückgekehrt war, nach Israel aus. Dort heiratete er seine Ehefrau, mit der er drei Kinder bekam. Später entschloss die Familie sich dazu, in die USA zu ziehen. Bis zu seinem Tod im Februar 2018 lebte Avraham Lavi mit seiner Familie in New York.

Die gemeinsame Zeit war wohl für uns alle ein Prozess des Verstehens, für Avrahams Familie eben auch ein Kennenlernen und Verstehen des Ortes, an dem ihr Vater gelitten hat und an dem dessen Vater und Bruder ermordet worden waren. Über all die Jahre und den engen Kontakt zu anderen Familienmitgliedern waren die Jahrestage oft ein Treffen mit Freunden, mit denen man eben jene schreckliche Geschichte geteilt hatte. Immer öfter gab es dann auch die Momente der Erleichterung, gemeinsames Essen und auch Trinken. Für Außenstehende mag dies absurd klingen, aber ja, wir haben gemeinsam getrunken und zwar nicht zu knapp. Vielleicht um zu vergessen oder vielleicht um das Leben und Überleben an diesem Ort zu feiern. Vielleicht auch beides. Fröhliche Momente, leichte Momente, an jenem Ort, der für Avraham so viel Leid bedeutete. Seine Geschichte und der Kontakt zu seiner Familie begleiten mich bis heute und ich werde die gemeinsame Zeit mit Avraham und seiner Familie nie vergessen.

Felix, Mitglied von Jugend für Dora e.V.

Leo Fonteijn

Leo Fonteijn, geboren im Oktober 1921 kam Anfang 1944 in die Fänge der Nationalsozialisten, weil er zu diesem Zeitpunkt seit ca. einem Jahr im niederländischen Widerstand beteiligt war. Leo wurde verhaftet und zunächst nach Buchenwald deportiert. Von dort aus kam er in das KZ-Mittelbau, in dem er körperlich schwere Zwangsarbeit leisten musste. Im Frühjahr 1945 kam Leo in das Außenlager Boelcke-Kaserne, das in Nordhausen als ein Sterbelager für kranke und erschöpfte Häftlinge diente. Leo überlebte als einer der Wenigen die Zeit in diesem Außenlager und wurde im April 1945 befreit.

Leo kehrte noch im selben Jahr in die Niederlande zurück. Dort entschied er sich, in die Armee einzutreten. Er wurde für drei Jahre in Indonesien zum Dienst eingesetzt. Im Anschluss daran verblieb er noch zwei Jahre nach seinem Dienst in dem Land. Danach entschied sich Leo dazu, seinen Wohnsitz dauerhaft zu verändern und zog nach Australien, wo er schließlich als Handwerker arbeitete. Leo verstarb im Januar 2014.

Als ich Leo kennenlernte, war ich 19 Jahre alt und sollte ihn und seine Begleitung in den kommenden Jahren während der Jahrestage immer wieder betreuen. Leo dürfte kaum 1.65 m groß gewesen sein und in seinem Gesicht konnte man immer noch die Züge eines schelmischen Pennälers erkennen. Ich habe kaum je wieder einen so humorvollen und charmanten Menschen getroffen. Und dieser Humor war es wohl auch, der im Kontext der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten immer wieder unfassbare Momente kreierte. Um zu verstehen, was ich genau meine, eine Anekdote, die ich nach all den Jahren immer noch gern erzähle, um zu erklären, wer Leo Fonteijn war oder besser, wie ich ihn kennengelernt habe. Im Zuge eines Jahrestages saßen wir bei einem hoch feierlichen Programmpunkt im Theater in Nordhausen. Alle wohl gekleidet und in Erwartung einer formellen offiziellen Feierstunde. Ich saß neben Leo und seiner Begleitung im Theater. Völlig unvermittelt fragte mich Leo, ob ich wüsste, warum die Nazis ihn nicht getötet hätten. Völlig überrascht ging ich in meinem Kopf alle historisch bekannten Umstände durch, die sein Überleben begünstigt haben könnten: Sein Alter, seine Netzwerke, sein Arbeitsplatz usw. Verunsichert trug ich ihm alle Gründe zusammen, die aus meiner Sicht für sein Überleben verantwortlich waren. Leo hörte mir geduldig zu und als ich fertig war, sah er mich völlig ernst an und sagte: „Nein, weil ich so lustig bin“. Eine bessere Anekdote, um die Zeit mit Leo verständlich zu machen, gibt es nicht. Trotz all der schrecklichen Erlebnisse, die er in seiner Zeit in den deutschen Gefängnissen und Konzentrationslager mitgemacht hatte, hatte dieser Mann seinen Humor nicht verloren. Vielmehr war es wohl seine Strategie, all dies zu verarbeiten. Die Nazis hatten ihn nicht untergekriegt. Das hat mich sehr beeindruckt.

Felix, Jugend für Dora e.V.

Erinnerung an meine Begegnung mit Alex Hacker

Ich saß gut vorbereitet am Flughafen in Frankfurt, hatte ein Schild mit dem Namen „Alex Hacker“ dabei und wartete auf die Ankunft der Maschine aus Toronto, Kanada. Laut Anzeige war sie gerade gelandet und ich dachte, dass ich jetzt vermutlich noch eine halbe Stunde Zeit hätte, bis der Überlebende, welchen ich betreuen sollte, samt seinem Sohn und seiner Enkelin in der Ankunftshalle erscheinen würden. Stattdessen liefen sie fast an mir vorbei, da sie nur mit Handgepäck unterwegs und daher schneller als erwartet waren. Mein erster Eindruck von Alex war der eines wachen und fitten Mannes, welcher mit seiner schnellen Auffassungsgabe zu immer treffenden, zumeist witzigen, häufig aber auch tief schwarzhumorigen Kommentaren fähig war. Dies begann schon bei der Begrüßung, nach der ich den Spitznamen „Nanny Cathrin“ für den Rest der Tage bekommen hatte. Diese Art des Humors begleitete mich durch den gesamten Jahrestag und bot mir die Möglichkeit einen kleinen Einblick in seine Sicht auf die Dinge zu bekommen. Ich hatte mich vorher häufig gefragt, mit welcher Motivation Überlebende zu Gedenkfeiern kommen und lernte bei Alex schnell, dass es für ihn jedes Mal die Erinnerung daran war, dass er gewonnen hat.

Er, der im Mai 1926 von den Nazis als ungarischer Jude ohne wirklich gläubig zu sein verfolgt und deportiert worden war. Aus seiner Heimat ging es für ihn zunächst ins KZ Flossenbürg und von dort aus in das KZ Mittelbau. Als junger Mann, der technisch zeichnen konnte, landete er, wie er selbst es beschrieb, mit viel Glück als privilegierter Häftling in der Produktion. Er überlebte den Todesmarsch nach Bergen-Belsen und wurde dort von den Briten befreit, wie er sagen würde: Er hatte gewonnen. Damit war aber kein Hochgefühl verbunden, sondern Trauer und Ernüchterung, als er zu Hause kaum überlebenden Verwandten wiederfand und sich nach kurzen Aufenthalten in Ungarn und dem DP-Camp Bergen-Belsen und der benachbarten Stadt Celle auf den Weg nach Israel machte. Aber auch Israel wurde für Alex nicht zur Heimat, da er in Frieden und Sicherheit leben wollte, wie er mir erklärte. So fand er seinen Weg nach Kanada, wo er eine eigene Familie gründete und so seinen Sieg feierte.

In den Tagen rund um den Jahrestag begleitete ich einen Mann und seine Familie, welche immer freundlich, meist gut gelaunt und geduldig an allen Terminen und Treffpunkten teilnahmen, die so auf dem Programm standen. Das, was mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist, sind die kleinen Kommentare, als Witz getarnte Bemerkungen, welche Alex für sich als Umgang mit den Erinnerung gewählt hat. Ein Beispiel sei hier erzählt: Wir saßen zusammen mit einem anderen Überlebenden aus Frankreich am Mittagstisch und waren daher ins Französische gewechselt. Für die Franzosen und Alex kein Problem, für mich halbwegs möglich, aber Alex´s Enkelin verstand kein Wort. So fasste Alex zumeist das Gesagte kurz für sie zusammen. Die beiden älteren Herren tauschten vor allem ihre Erinnerung an die Lagerzeit aus und sprachen besonders über den Todesmarsch nach Bergen-Belsen, welchen Alex in einem Zugwaggon, der andere Überlebende jedoch zu Fuß zurücklegen musste. Alex kurze Zusammenfassung für die Enkelin lautet am Schluss: „I was lucky and travelled first class with a train to Belsen, this poor guy is the real hero, because he marched the whole way.“

Am Ende der Gedenketage reiste die Familie Hacker weiter nach Basel, um sich dort mit alten Freunden zu treffen. Der ICE hatte zehn Minuten Verspätung und so standen wir noch gemeinsam am Bahnhof. Alex fragte mich verwundert, wo den der Zug bliebe. Ich antwortete, dass er natürlich nicht pünktlich sei, es sei halt die Deutsche Bahn. Alex glaubte mir nicht wirklich, denn es sei ja schließlich die Deutsche Bahn und wir Deutschen seien ja immer so pünktlich. Er machte darüber noch einen Witz, an dessen Wortlaut ich mich nicht mehr erinnere und stieg dann in den Zug. Wir kommunizierten im Anschluss an den Jahrestag noch lange per Mail und schickten uns Pakete. Vermutlich würde Alex auch ein witziger Kommentar dazu einfallen, dass er mir heute die Pakete nach Celle schicken müsste, wo er nach seinem Sieg ein paar Wochen als Postbote gearbeitet hat.

Katharina Friedek, Mitglied von Jugend für Dora