Eine Birke names Boris

Geboren 1913 in einer slowenischen Familie, als die Hafenstadt Triest noch zu Österreich-Ungarn gehörte, erlebte Boris Pahor (1913-2022) bereits in jungen Jahren die Unterdrückung der slowenischen Kultur durch die italienischen Faschisten. Später engagierte er sich im slowenischen Widerstand und wurde, kurz nachdem die Nazis Triest besetzten, am 21.01.1944 verhaftet.

Als politischer Häftling durchlief Boris Pahor verschiedene nationalsozialistische Konzentrationslager, darunter Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Während er viele Mithäftlinge und Freunde leiden und sterben sah, eröffnete ihm sein Sprachtalent einen Dolmetscherposten in Natzweiler-Struthof. Später setzte man Boris Pahor als Häftlingskrankenpfleger ein und in dieser Position gelangte er im Dezember 1944 in den Häftlingskrankenbau Harzungen, einem Außenlager von Mittelbau-Dora.

Nach der Befreiung war er abgemagert und an Tuberkulose erkrankt, so dass er selbst zunächst länger in einem Sanatorium nahe Paris auf medizinische Hilfe angewiesen war. Nebenbei nutzte Boris Pahor diese Gelegenheit, um sich intensiv die französische Sprache anzueignen. Nach seiner Genesung konnte er das Studium wieder aufnehmen, arbeitete später als Lehrer und wurde zu einem der bekanntesten slowenisch-sprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Sein herausragendes Werk ist das Buch „Nekropolis“, was von seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern handelt aber auch immer wieder grundlegende Fragen der Konzentrationslager und des Erinnerns reflektiert.

Nach dem Zivildienst in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora hatte mich das Studium ein Jahr lang ins italienische Padua geführt, eine bedeutende Universitätsstadt, in der, wie ich später erfuhr, auch Boris Pahor etwa 70 Jahre zuvor studiert hatte. Mit der italienischen Sprache vertraut, habe ich 2015 die besondere Aufgabe bekommen, beim 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora persönlicher Betreuer von Boris Pahor zu werden. Da er zur slowenischen Minderheit im italienischen Triest gehörte, beherrschte er immer schon beide Sprachen – Slowenisch und Italienisch. Beim folgenden Jahrestag 2016 durfte ich Herrn Pahor dann noch einmal begleiten. Da er in verschiedenen großen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, hätte er natürlich auch zu anderen Jahrestagen reisen können. Doch der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora war Boris Pahor besonders verbunden, weil er den Besuch einer Gruppe des Vereins Jugend für Dora im Jahr 2009 beim ihm zuhause in Triest in guter Erinnerung behalten hatte. Er wurde im Rahmen des Projektes „Zukunft der Zeitzeugen“ interviewt und ihm gefiel, dass junge Leute sich für seine Geschichte und seine Meinung interessierten.

 

Die Betreuung von Boris Pahor und seinem Sohn Adrijan bei den zwei Jahrestagen war für mich eine sehr intensive und beeindruckende Zeit. Trotz seines hohen Alters und gewisser körperlicher Einschränkungen erlebte ich ihn als schlagkräftigen Gesprächspartner, sowie aufmerksamen und interessierten Beobachter mit Sinn für Humor. Immer wieder kamen Erinnerungen in ihm hoch, dazu gehörten verschiedene deutsche Begriffe der Lagersprache, Ortsnamen und sogar ein Schlager, den er damals häufig gehört hat. Essen hatte eine ganz besondere Bedeutung für Boris Pahor und er schätze eine warme Minestrone, dabei erinnerte er sich an den extremen Hunger den er als Häftling erlebte hatte. Großes Interesse schenkte er dem Pressespiegel und der medialen Berichterstattung zum Jahrestag. 2016 hatte es ein Foto vom Jahrestag auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung geschafft, worüber sich Herr Pahor besonders freute.

 

Eine wichtige Aufgabe zum 70. Jahrestag war das Organisieren eines „echten“ Espresso, denn vor seiner großen Rede wollte Boris Pahor richtig wach sein. Von der Mittagsrunde im Festzelt rannte ich deshalb zur Küche im Hauptgebäude, unsicher, ob es dort überhaupt einen italienischen Espresso gab. Zum Glück entsprach das hastig organisierte Getränk seinen Vorstellungen und die Rede war sehr beeindruckend. Der zu diesem Zeitpunkt 101-jährige Boris Pahor, ein wahres Sprachtalent, redete etwa eine halbe Stunde lang frei auf Französisch. Er legte den Fokus auf die Erinnerung an die „Triangoli rossi“, die roten Winkel, also die politischen Gefangenen, zu denen er selbst gehört hatte. Er rief dazu auf, ihr Schicksal nicht zu vergessen und die Orte, an denen sie gelitten haben oder gestorben sind, in Erinnerung zu behalten und zu bewahren.

 

Boris Pahor war besonders von der Idee des Ehrenhains in Nordhausen begeistert und widmete diesem Ort den Artikel „Una betulla di nome Boris“(Eine Birke namens Boris), der am 20.05.2012 in der großen italienischen Tageszeitung „Il Sole 24 Ore“ erschien. Ihm gefiel gut, dass ein Ginko, dem ja eine unterstützende Wirkung auf das Gedächtnis nachgesagt wird, das Zentrum der Bäume bildet. In dem Artikel brachte Boris Pahor jedoch auch sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass er den Baum noch nicht selber gesehen hatte. Beim Jahrestag 2016 konnten wir schließlich eine Pause im Programm nutzen, um gemeinsam die Birke zu besuchen, worüber er sich sehr freute. Insgesamt unterhielten wir uns viel über Sprachen. Zum Abschied empfahl er mir noch eine slawische Sprache zu lernen, da Sprachen die Möglichkeit bieten, den eigenen Horizont zu erweitern.

Philipp Kiosze, Mitglied von Jugend für Dora e.V.