Meine Begegnung mit Boris Pahor

Da saß ich nun ihm persönlich gegenüber: Boris Pahor, für mich persönlich eine Lichtgestalt der italienischen und slowenischen Literatur. Einer der ganz großen Intellektuellen, die sich in ihren Schriften und Werken über viele Jahrzehnte hinweg für das Friedensprojekt Europa stark gemacht hatten. Einer, der wie nur wenige Menschen auch mit seiner eigenen Biografie die Geschichte des 20. Jahrhunderts verkörperte.

Nordhausen im April 2015: In der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora wurde nun der 70. Jahrestag der Befreiung begangen. Als ich wenige Monate zuvor erfahren hatte, dass Boris Pahor trotz seines hohen Alters persönlich anreisen und teilnehmen würde, war ich höchst vorfreudig auf diesen runden Jahrestag gespannt. Als mich die Mitarbeitenden der Gedenkstätte dann kurzfristig im März fragten, ob ich bereit wäre, ein Zeitzeugeninterview mit Boris Pahor zur audiovisuellen Dokumentation für die Sammlung der Gedenkstätte zu führen, steigerte sich meine Vorfreude umso mehr. Was für eine Gelegenheit, diesem großen Geist, Chronisten und Vordenker auf diese Weise ganz nah begegnen zu dürfen. Und so befand ich mich gemeinsam mit ihm an jenem Tag in einem unscheinbaren Seminarraum in der Gedenkstätte. Er saß mir gegenüber hinter einem Tisch, vor sich ein Glas Wasser. Eine körperlich kleine, unscheinbare Gestalt, die allerdings durch ihr stilles, bedächtiges Auftreten und ihren klaren, offenen Blick eine große Würde und Erhabenheit ausstrahlte. Außer uns beiden waren noch ein Kameramann und ein Tontechniker sowie zwei weitere Mitglieder des Vereins Jugend für Dora e.V. mit dabei, die meinem Gespräch mit Boris Pahor ebenfalls zuhören wollten.

Und er begann zu erzählen: Von Harzungen, vom dortigen KZ-Außenlager und seiner Umgebung, dem Dorf und den Anwohnenden. Von der schweren körperlichen Zwangsarbeit. Vom täglichen Kampf um Selbstbehauptung und Hoffnung im Lageralltag. Vom Leben und Überleben. „Ich möchte Sie aber keinesfalls langweilen“, erklärte er mir zwischendurch immer wieder in seinem herrlichen Triester Italienisch. Wie könnte er! Ich lauschte ihm, ließ ihn erzählen, tunlichst bemüht, seinen Worten zu folgen, seine Gedanken nicht zu unterbrechen. Um seine Worte in mich und für die mitlaufenden Speichermedien aufzusaugen, all das, was er mir dort vor Ort in diesem Setting mitgeben wollte. Als geistiges Erbe und Erinnerung für die Zukunft. Auch als Zeitdokument für eine Zukunft, in der wir alle, die wir nun in diesem Raum versammelt waren, nicht mehr hier sein würden.

Doch Boris Pahor war im Hier und Jetzt ganz präsent. Trotz seines für mich unvorstellbaren Alters von fast 102 Jahren saß er da und erzählte. Zwischendurch eine humorvolle Bemerkung, eine Rückfrage, ob ich tatsächlich alles sprachlich verstanden hätte. Ich nickte. Es sei ihm eine Freude, dieses Gespräch mit mir auf Italienisch führen zu dürfen, hatte er mir im Vorfeld erklärt.

Als wir uns langsam der Zwei-Stunden-Grenze näherten, merkte ich ihm allmählich etwas Erschöpfung und Müdigkeit an. Deshalb bemühte ich mich nun, das Gespräch behutsam und respektvoll zu beenden, um ihm die Möglichkeit zur Ruhe zu geben. Dennoch versicherte mir Boris Pahor, dass er mir eigentlich noch viel mehr hätte erzählen wollen. Wir müssten uns eben nochmal treffen. Was ich denn beruflich machte. Und wo er mich besuchen könnte, fragte er mich. Ich erzählte ihm, dass ich als Historiker gerade die Leitung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen übernommen hatte. Eines Ortes in Sachsen-Anhalt, der in den kommenden Jahren ein Dokumentationszentrum mit einer Dauerausstellung erhalten und als Gedenk- und Bildungsort konzeptuell neu erschlossen würde. Aufmerksam hörte er mir zu, schaute mich durch die beiden Gläser seiner Brille interessiert an, nickte ab und zu verständnisvoll. Dann fasste er mit seiner rechten Hand kurz in seine Jackentasche und zückte ein kleines blaues Büchlein: seinen Terminkalender. „Und wann, sagten Sie, wird diese Gedenkstätte neu eröffnet?“ Diese Rückfrage überraschte mich. Ich zögerte kurz und erklärte ihm dann, dass es bei allen Planungsunsicherheiten wohl in fünf Jahren, also im April 2020, einen 75. Jahrestag des Massakers von Gardelegen geben werde, der erstmals in dem neuen Gedenkstättengebäude würde stattfinden können. „Es wird mir eine Ehre sein, zu dieser Eröffnung zu kommen“, entgegnete mir Boris Pahor. Während er sprach, notierte er etwas in seinem Kalender, dann klappt er ihn zu, ließ ihn und den Kugelschreiber wieder in seine Tasche gleiten und schaute mich an. Zwar sichtlich ermüdet von unserem knapp zweistündigen Gespräch. Aber dennoch mit einem höchst klaren und entschlossenen Blick. „Es war mir eine Freude, Sie heute hier getroffen zu haben“, erklärte er mir und deutete an, sich nun erheben zu wollen. Ich dankte ihm für seine Zeit, für seine Gedanken und persönlichen Schilderungen. Zum Schluss traute ich mich doch noch und fragt ihn, welche Botschaft er mir und den Menschen heute mitgeben möchte. Nach kurzem Nachdenken antworte er mir: „Geben Sie bitte niemals die Hoffnung auf!“ Ein einprägsamer Satz, den ich seitdem in mir trage und dessen prägnante Aussage mich zutiefst beeindruckte.

So verabschiedeten wir uns voneinander. Kurz darauf durfte ich Boris Pahor bei der öffentlichen Gedenkveranstaltung sehen und hören. Auch in den folgenden Jahren begegnete ich ihm nochmal bei den Jahrestagen zur Befreiung des KZ Mittelbau-Dora. Doch zum eigentlich verabredeten Treffen anlässlich der Eröffnung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen kam es leider nicht mehr. Erst durchkreuzte die Corona-Pandemie sämtliche Pläne und Gedenktage. Und dann holte Boris Pahor leider doch noch sein hohes Alter ein. Als mich die Nachricht von seinem Tod im Jahr 2022 erreichte, mischten sich in mir Trauer und Dankbarkeit. Trauer darüber, dass dieser beeindruckende Mensch nun im Alter von 108 Jahren von uns gegangen und für immer verstummen würde. Und Dankbarkeit dafür, welches literarische Erbe er uns als Zeitzeuge hinterließ – und für jene zwei Stunden im April 2015, als ich ihm gegenübersitzen, mit ihm reden und ihm zuhören durfte.

Andreas Froese, Mitglied von Jugend für Dora e.V.